Wie die Pandemie den Beratungsalltag verändert

Harald Kaßen gewährt Einblicke in die psychologische und soziale Beratung seit Beginn der Pandemie.

Zur Person: Harald Kaßen kam 2014 zum STUDIERENDENWERK. Nach vielfältigen Stationen – zuletzt eine eigene Praxis für Psychotherapie – verstärkte er die Sparte Soziales und Interkulturelles zunächst als Berater. Seit Frühjahr 2016 leitet der studierte Sozialwissenschaftler den Bereich soziale und psychologische Beratung. Vom Bewerbungstraining über die Wohnungslosenhilfe bis hin zur Förderschule: Im Umgang mit ratsuchenden Studierenden kommt ihm sein reicher Schatz an haupt- und nebenberuflichen Erfahrungen zugute.

Vorbeikommen und Rat erhalten: Studierenden standen die Türen zur sozialen und psychologischen Beratungsstelle des STUDIERENDENWERKS buchstäblich weit offen. Doch mit Ausbruch des Coronavirus lautet die oberste Priorität plötzlich kontaktlos. So wird die Pandemie zur Geburtsstunde der Videoberatung.

Harald Kaßen, Bereichsleiter der sozialen und psychologischen Beratung, über die Herausforderungen und das Potential einer neuen Gesprächssituation.

Welche Anforderungen werden an eine Videoberatung gestellt und wo liegen für Sie die größten Unterschiede zum Vor-Ort-Gespräch?
Um als Beratungsstelle überhaupt mit einer Videoberatung starten zu können, bedarf es zunächst eines Tools, das die erforderlichen, hohen Datenschutzstandards erfüllt. Zurzeit arbeiten wir mit RED connect. Einer Software, die sich bereits im Gesundheitswesen etabliert hat und von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zertifiziert ist. 

Die größten Unterschiede zwischen Vor-Ort-Gespräch und digitaler Beratung sehe ich im Beziehungsaufbau und in der Interaktion. Digital besteht zu Beginn mehr Distanz, denn in persona fängt der Beziehungsaufbau schon beim physischen Reinkommen an. Normalerweise wird ein Gespräch mit Gesten wie dem Händeschütteln, dem Reinbitten und dem Platzanbieten eingeleitet. Online gibt es diesen Vorlauf nicht, sondern es geht direkt los.

Hinzu kommt, dass ich als Berater während eines Videogesprächs immer nur einen kleinen Ausschnitt meines Gegenübers wahrnehme. Durch diese bruchstückhaften Eindrücke gewinnt die Metaebene umso stärker an Bedeutung. Das heißt: Als Berater muss ich meine Wahrnehmung häufiger prüfen und mich meiner Einschätzung vergewissern, indem ich sie verbalisiere. Auf dieser Ebene entsteht also deutlich mehr Arbeit. Sie ist aber sehr wichtig, um Dinge richtig einordnen und benennen zu können.

Außerdem sind wir als Beraterinnen und Berater virtuell zwangsläufig passiver und in gewisser Weise auch methodenärmer als beim Gespräch vor Ort, da wir nur bedingt eingreifen können. Beginnt unser Gegenüber beispielsweise zu weinen, können wir keine Taschentücher reichen.

Im Gegenzug treten in einem Videogespräch aber andere Dinge in den Vordergrund und es ergeben sich einige große Vorteile – auf mehreren Ebenen. Dem aktiven Zuhören kommt eine größere Bedeutung zu und das Gespräch gewinnt insgesamt an Intensität. Nicht zu vergessen: Dank der digitalen Begegnung können ratsuchende Studierende zudem in ihrem eigenen Umfeld bleiben, wodurch sich meist eine gewisse Vertrautheit ergibt. Manche – natürlich nicht alle – können sich in diesem sicheren Rahmen besser öffnen.

Wie wird die Videoberatung von Studierenden angenommen?
Als wir die digitale Beratung einführten, gab es durchaus Studierende, die ihren Termin verschoben haben, um zum späteren Zeitpunkt eine persönliche Beratung vor Ort wahrzunehmen. Seit 2021 merke ich davon nichts mehr. Die anfängliche Scheu ist verschwunden. Unsere Videoberatung wird sehr dankbar und positiv angenommen. Hatte es im Vorfeld Vorbehalte oder Unsicherheiten gegeben, bekamen wir nach den Terminen mehrfach die Rückmeldung, dass die oder der Ratsuchende vorher nicht gedacht hätte, dass die Videoberatung so gut funktioniert.

Welche Rolle spielt das klassische Telefongespräch noch für Ihre Beratungen?
Das Telefon ist immer noch eine Option, die von Studierenden gewählt wird. Langfristig läuft die Videoberatung dem Telefonat den Rang ab, das zeigt sich nach weit über einem Jahr Pandemieerfahrung. Trotzdem wird es nicht zur vollständigen Ablösung kommen. Das Telefonat ist und bleibt eine eigene Form der Beratung, die ihre Berechtigung und Wichtigkeit hat – mit einer eigener Qualität.

Vor der Einführung des Videotools war ich wirklich überrascht, welche Intensität telefonische Beratungsgespräche haben können. Abgesehen davon bleibt uns das Telefon allein deshalb erhalten, weil es technisch anders aufgestellt ist als die Videotelefonie.

Senkt ein digitaler Rahmen die Hemmschwelle, Ihren Rat zu suchen?
Wissenschaftlich korrekt kann ich diese Frage nicht beantworten, weil wir dies nicht erheben. Insofern wissen wir nicht, ob diejenigen, die die Videoberatung nutzen, auch auf anderem Wege zu uns gekommen wären oder nicht.

Aus meiner eigenen Wahrnehmung heraus würde ich allerdings sagen, dass die Hemmschwelle nun viel geringer ist, weil sich Studierende spontan für eine Beratung entscheiden und sich einfach von zu Hause aus einloggen können – ohne Anfahrt und ohne gesehen zu werden. Ratsuchende haben uns in der Vergangenheit durchaus schon berichtet, dass sie schon mal all ihren Mut zusammengenommen hatten und dann während der offenen Sprechstunde doch wieder gegangen sind, weil der Wartebereich sehr gut besucht war. Sowas passiert jetzt nicht mehr.

Wie präsent ist die Pandemie in Ihren Beratungsgesprächen und durch welche Themen?
In unseren Beratungsgesprächen sind die Auswirkungen von COVID-19 allgegenwärtig. Die Pandemie spielt in nahezu jeder Beratung eine Rolle. Es gibt nach wie vor die vorherrschenden Grundthemen, mit denen Studierende zu uns kommen. In der psychologischen Beratung zählen dazu unter anderem Identitäts- und Selbstwertprobleme sowie Leistungsdruck. Die Pandemie ist ein absoluter Verstärker bereits bestehender Probleme. Die zusätzlichen Belastungen des Virus begünstigen vorhandene Stimmungen und Schwierigkeiten.

Dominant sind außerdem Einsamkeit und Isolation – insbesondere bei internationalen Studierenden. Das sind bei Weitem keine neuen Themen, aber zurzeit ziehen sie sich durch alle Beratungen.

Ausblick in die Zukunft: Die Pandemie ist überwunden – bleibt die Videoberatung?
Definitiv! Die Videoberatung wird bleiben und langfristig zum festen Bestandteil unseres Angebotes werden – neben dem Telefon und den Gesprächen vor Ort. Ganz unabhängig von den Einschränkungen einer Pandemie bietet das Videogespräch einfach sehr viele Vorzüge.

Dank der digitalen Beratung sind Studierende örtlich ungebunden, das ist gerade bei einer Pendler-Uni sehr von Vorteil. Auch die Lücken, die sonst durch Abwesenheit – zum Beispiel in den Semesterferien – entstehen, können wir dadurch schließen.  

Grundsätzlich müssen Ratsuchende nicht mobil sein, um unsere Beratung per Videoanruf in Anspruch zu nehmen. Für Studierende mit einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung fallen dadurch Barrieren weg. Nicht zuletzt erreichen wir mit der Videoberatung nun auch Studierende, die in ihrem Alltag mit wenig Antrieb kämpfen und für die der Weg zu uns ins Büro möglicherweise eine zu große Hürde gewesen wäre.